STETIGES UND AUFLEUCHTENDES

Nicola Höllwarth

Klarer und nachvollziehbarer könnten die Bildelemente in Astrid Schindlers Radierserie RGB kaum gesetzt sein: Rote, gelbe und blaue Linien ergeben eine symmetrische Komposition, indem sie sich in systematischem Abstand horizontal, vertikal und diagonal kreuzen. Jedoch soll es hier nicht nur um die offensichtliche, strukturelle Anordnung der Linien gehen, sondern vielmehr um deren Entgegen- und Zusammenwirkung, wenn der Blick sie zu fassen versucht. Denn trotz der klaren Setzung der Bildelemente findet der Blick – wandert er nach einer ersten Orientierung über eine der Arbeiten – kaum Rast. Weil hier etwas, das festzustehen scheint, sich unerwartet als etwas ganz Anderes entpuppt, liegt ein Vergleich mit Ludwig Wittgenstein Unterscheidung zwischen dem „[stetigen] Sehen“ und dem „Aufleuchten“ eines Aspekts nahe. Natürlich ist dieses „Bemerken“ eines Aspekts kein einmaliges „Aufleuchten“ wie es beim berühmten Hasen-oder-Entenkopf-Kippbild der Fall ist, sondern ein „Auf- und Ableuchten“ mehrerer Aspekte, die sich unter das „stetige Sehen“ zu mischen scheinen.

In RGB (rh2, gv2, bd1) äußert sich dies beispielhaft in der Wahrnehmung der blauen diagonalen Linien: Am äußeren Rand des Blattes erscheinen diese wie Kreuze, die als stabil wahrgenommen werden, solange man sich auf sie konzentriert. Rutscht man allerdings mit dem Auge auf die roten oder gelben Linien, verändern sich die Kreuze zu aneinandergereihten Rauten. Damit leuchtet im Wittgensteinschen Sinne ein neuer Aspekt auf. Ist das Auge nun von der Kreuzform abgekommen, sucht es im inneren Bereich der Rasterung dementsprechend weitere Rauten: Die blauen Linien verdichten sich jetzt zu größeren Rauten, die dem Blick jedoch kaum standhalten können und sich zu diagonal angeordneten Kacheln formieren. Doch auch dieses Sehen ist nur für kurze Zeit stetig. Beinahe gleichzeitig mutieren die Kacheln von Rauten zu Kreuzen und wieder zurück. Damit scheint also das erste „Aufleuchten“ eines Aspekts viele weitere auszulösen. Auf diese Weise changiert der Blick zwischen sukzessiver und ganzheitlicher Wahrnehmung in dem Maße, dass diese mit dem Auge kaum greifbare Wechselhaftigkeit den Anschein von permanenter Stabilität erweckt. Wittgensteins „stetiges Sehen“ wird hier zum stetigen „Aufleuchten“, das sich in den weiteren Blättern der Serie durch kleinste Abwandlungen vermehrt und damit multiaspektisch neu formiert. Nicht zuletzt ist eine solche Lesart laut Wittgenstein deshalb ein Beitrag zu einem „neue[n] Seherlebnis“ weil das „Bemerken“ eines neuen Aspekts auch die Wahrnehmung des ursprünglich Gesehenen verändert.